Wenn der Zeitgeist KVB* fährt

*Kölner Verkehrsbetriebe

Hinweis: Die Bahnfahrt ereignete sich im Juni 2020. Die Maskenpflicht im ÖPNV war noch relativ frisch.

Ein Samstagmorgen im ersten Corona Sommer. Ein gutes Dutzend Fahrgäste wartet an der Haltestelle Chlodwigplatz auf eine Straßenbahn in Richtung Innenstadt. Die Masken sind zum Teil schon gezückt, Körper und Geist vorgeheizt von der schwülen Luft, die sich unter einer weiß-grauen Wolkendecke angestaut hat. Vom Chlodwigplatz her ist in Intervallen ein Gebrüll zu vernehmen. Ein einzelner Mann schimpft, so viel ist klar – über was genau, klingt dagegen nicht so klar. Die Stimme kommt näher und mit dem Erscheinen des Mannes an der Haltestelle erhärtet sich die Vermutung, dass dieser gerade durch seinen ganz persönlichen Kosmos zieht. Er stapft über den Bahnsteig, die Maske unters Kinn geschnallt, und schimpft jetzt unmissverständlich: „Ihr seid doch alles Corona Opfer!“ Der sanftmütigere Kumpane, der ihm folgt, versucht noch zu beschwichtigen: „Das kannst du ja so auch nicht sagen.“ Doch von den umstehenden Leuten fühlt sich ohnehin niemand angesprochen. 

Die beiden trotten weiter, aus der Gegenrichtung stürmt eine gestresst wirkende junge Frau mit einer großen Handtasche auf den nächsten freien Sitzplatz zu. Sie knallt die Tasche auf den Sitz und fängt an, hektisch darin herumzukramen. Dann findet sie das Deospray, welches sie sich sogleich von oben in den Pulli sprüht, wo es mit der dicken, fellrandbesetzten Kapuzenjacke verschmelzen kann, welche sie noch darüber trägt. Die Entspannung, die sie nach dieser Erfrischung zu überkommen scheint, schwindet wieder, als sie kurz darauf in der Linie 15 ihren Platz einnimmt. Das ist nachvollziehbar, selbst wenn man an diesem schwülen Morgen keine Jacke trägt. Die Türen haben sich kaum geschlossen und aus Mund- und Nasenschutz wird Mund- und Nasensauna. Kein Atemzug will ab sofort mehr richtig zu Ende gehen, kurz vor dem befreienden Durchzug wird er einfach abgeschnitten. Das macht müde und lässt die Laune sinken. Oder macht die sinkende Laune müde? 

Der entsetzte Ausruf eines zugestiegenen Zeitungsverkäufers ist kurz vor dem Zülpicher Platz trotz maskenbedingter Schall- und Sinnesdämpfung deutlich zu verstehen und impliziert: Da kackt ein Alter auf die Straße. Neben das Telefonhäuschen, welches auf dem kleinen Platz neben der Eisdiele auf der rechten Seite stadteinwärts steht, um genau zu sein. „Alter“ richtet sich gerade auf, die Hose hängt noch unten, ein Stück Zeitungspapier deutet die Richtung an, in welche seine rechte Hand es gleich führt. Dann ist die Bahn vorbeigefahren und die Szene verpufft wie die abgeschnittene Atemluft. 

Das Feuchtgebiet, welches sich unterdessen unter der Maske gebildet hat, fördert auch nach der Einfahrt in den Tunnel noch Missmut und lässt außerdem das Reaktionsvermögen sinken. So verpassen am Friesenplatz gleich zwei Bahninsassinnen ihren Ausstieg. Die Andere trägt noch immer ihre fellrandbesetzte Kapuzenjacke. Nach dem Seitenwechsel an der U-Bahnstation Christophstr./Mediapark erwischen beide die Linie 12. Die Frau mit der Jacke telefoniert, als sie die Bahn betritt. Den Verstoß, den sie gleichzeitig begeht, bringt sie eine Zehntelsekunde später selbst und ziemlich lautstark auf den Punkt: „WAS? Weil ich keine Maske trage?“ „Allerdings!“, bestätigt eine sichtlich pikierte ältere Insassin, der die Frage gilt. „Fick dich, du Fotze!“, schnauzt die Frau mit der Jacke zurück und lässt sich in der nächsten Sitzreihe nieder, woraufhin ihre Widersacherin empört die Flucht ergreift. Am Friesenplatz nimmt das Gekeife auf dem Weg nach oben noch einmal kurz Fahrt auf, bevor es irgendwo in der Ferne verhallt. 

Die Stille währt nicht lange.

„Inschallah!“ ruft auf dem oberen Bahnsteig ein mitteljunger, maskierter Mann, ehe er seine Botschaft von der digitalen Tafel verliest: „In drei Minuten kommt die Bahn.“ Die Wartezeit bis dahin nutzt er für ein Selbstgespräch, dessen Inhalt auch gleich erklärt, weshalb er mit sich selber spricht: „Ich hasse die Menschen. Ich hasse ALLE Menschen.“ Die verhassten Menschen, die mit ihm auf die Bahn warten, erfahren darüber hinaus, warum er lieber in Amerika wäre: „Da wird wenigstens Englisch gesprochen.“ Dann fährt die Linie 5 ein, mehrere Fahrgäste steigen aus. „Guten Morgen, Zombie“, grüßt der Menschenhasser einen alten Mann, doch der bekommt davon nichts mit. In der Bahn grüßt er weiter, ein anderer Mann grüßt zurück, ein Gespräch kann auch hier nicht aufkommen, denn der Menschenhasser spricht nur mit sich selbst und hat dabei nichts Nettes zu verkünden. 

Als die Bahn den Tunnel in Ehrenfeld verlässt, beginnt sein Monolog langsam zu versiegen. Draußen hat sich inzwischen die Sonne durchgesetzt. Der Himmel über der aufgerissenen Wolkendecke strahlt jetzt so weiß-blau wie die Einwegmaske, die die Energie des Menschenhassers nach und nach aufgesaugt haben muss.